Leben auf der Alp

20. November 2005 / Susanna Ribi

Biiip, biiip. Der Wecker riss mich ohne Gnade um halb fünf aus den schönsten Träumen. Kurz darauf stieg ich noch schlaftrunken aus dem Bett und suchte meine Kleidung zusammen. Wenige Minuten später stand ich draussen im Dunkeln und liess die ersten Kühe in den Stall.

Ich habe diesen Sommer vom 5. Juni bis 9. September auf der Alp Pradame in Malbun im Fürstentum Liechtenstein verbracht. Ich war das erste Mal auf einer Alp und durfte als Zusennin meine ersten Erfahrungen sammeln. Das Team bestand aus vier Frauen und drei Männer: ein Senn, eine Zusennin, zwei Kuhhirten (ein Mann und eine Frau), ein Rinderhirten-Ehepaar und eine Haushälterin. Ausserdem hatten wir 104 Kühe, ca. 60 Rinder, 45 Schweine, sieben Hühner, einen Hahn, sowie zwei Hunde.

Morgens und abends melkte ich «meine» Kühe. Manchmal ging ich morgens oder nachmittags mit der Hirtin die Kühe von der Weide holen. Ich war aber froh, dass ich nicht jeden Tag um viertel nach vier aufstehen musste. Den Rest des Tages verbrachte ich in der Sennerei und manchmal in der Küche. Das Melken musste ich vor der Alpzeit noch erlernen, wozu ich ein paar Monate bei einer Bäuerin mithelfen konnte. So vorbereitet ging ich auf die Alp, ansonsten hatte ich keine Ahnung was mich dort erwartete.

Vor allem das frühe Aufstehen und das Mittagschläfchen (welches nötig ist, wenn von morgens um 4.30 Uhr bis abends um 20.00 Uhr gearbeitet wird), waren für mich sehr ungewöhnlich. Und dies wirklich jeden Tag. Ich bewundere alle Landwirte, die jeden Tag morgens und abends ihre Kühe melken, und das jahrelang.

Hoffen und Glauben gehört zum Leben der meisten Älpler. Sie sind gottesfürchtig und für jede Alp gibt es einen Alpsegen-Ruf, ein Gebet. Unser Senn hat den Alpsegen fast jeden Abend gerufen. Der Aberglaube hat aber auch seinen Platz. Der Mittwoch ist zum Beispiel ein schlechter Tag, um mit den Kühen aufzufahren, hat unser Toggenburger Hirte klargestellt. Deshalb sind die Kühe erst am Donnerstag, 16. Juni gekommen.

In den ersten Tagen mussten wir die Zäune erstellen, denn die Kühe weiden ja meistens wenn sie auf die Alp kommen. So packten wir Pfähle, Elektroband, Isolatoren, Taschenmesser, einen Nagel, sowie etwas zum Essen ein und machten uns auf den Weg zu den Weiden. Die Hänge hinauf und hinunter wurden Pfähle eingeschlagen, Isolatoren in die Bäume gedreht (mit dem Nagel!) und das Band festgemacht. Tag für Tag schwanden die Pfähle und das Band, bis Ende Woche fast nichts mehr in der Scheune war. Nachdem auch der Stall und die Sennerei eingerichtet waren, konnten die Kühe kommen.

Am ersten Abend war das Melken noch ungewohnt und es dauerte deshalb auch länger. Wir mussten uns zuerst an die Kühe und an die Melkmaschinen gewöhnen. Wir melkten mit acht Aggregaten. Mir wurden zwei Aggregate und 28 Kühe zugeteilt. Von Tag zu Tag ging es besser und jeder wusste, was er zu tun hatte. Am Ende des Sommers ging es ruckzuck, denn es waren auch ein paar Kühe weniger zu Melken.

Nachdem wir die Kühe am ersten Tag auf die Weide gelassen hatten, machten wir uns an die täglichen Arbeiten. Als wir schliesslich am Mittagstisch sassen, freuten wir uns schon auf den Mittagsschlaf. Plötzlich hörten wir aber ein Geläut. «Was ist denn das?», fragte der Kuhhirte. Sofort standen alle auf und liefen aus dem Haus. Auf dem Vorplatz standen unsere Kühe und muhten uns an. Scheinbar wollten sie wieder nach Hause. Nachdem wir uns wieder gefasst hatten, griffen wir zum Stock und trieben die unwilligen Kühe wieder auf die Weide zurück. In den nächsten Tagen lauschten wir immer wieder, ob draussen Kuhglocken zu hören waren, doch wir hatten Glück. Die Kühe gewöhnten sich bald an das Leben auf der Alp.

Die Arbeit in der Sennerei hat mir sehr gut gefallen. Das Käsen, Buttern und Joghurt machen war ziemlich neu für mich. Bald konnte ich alleine das Käsen überwachen, bis es Zeit wurde, den Käse aus dem Kessi zu nehmen. Der Senn schmierte in dieser Zeit die Käse im Keller. Manchmal durfte auch ich die Käse schmieren. Davon habe ich stärkere Muskeln in den Oberarmen bekommen, da auf einem Brett drei Käse à fünf Kilo lagen. Gratis-Training sozusagen!

In diesem Sommer musste ich auch einiges Einstecken. Am Anfang waren Kühe, die mir auf die Zehen traten, fast alltäglich. Ich war erstaunt, dass ich nie blaue Zehen bekam. Anfangs schmerzten mir die Finger vom Melken, kurz nach dem Erwachen war es immer besonders schlimm. Nach einer Woche ging es zum Glück vorbei. Wir hatten viele Kühe mit Hörnern, aber von denen habe ich fast nie etwas zu spüren bekommen.

Später bekam ich vom Käsen einen Ausschlag an den Armen. Lauge, Säure und Salz haben dazu geführt. Es hat manchmal stark gejuckt. Ich habe dann verschiedene Salben ausprobiert und öfters während der Arbeit Handschuhe getragen. Bald hatte ich mich auch daran gewöhnt.

Meistens denken die Leute, wenn sie das Wort Alp hören, an hohe Berge, saftige Weiden und einen einsamen Hirten. Doch nicht auf jeder Alp sind die Älpler einsam. Wir bewirteten die Wanderer, die vorbei kamen, mit Getränken und einigen kalten Gerichten. Natürlich verkauften wir auch Käse, Butter, Joghurt und Milch. Bei schönem Wetter gab es oft viele Gäste, so dass an Einsamkeit nicht zu denken war.

Gegen Ende des Sommers spürte ich, dass meine Energie schwand. Trat mir eine Kuh auf den Zehen, so schmerzte es mehr als zuvor, und für die täglichen Arbeiten benötigte ich mehr Kraft. Es wurde Zeit, dass der Sommer zu Ende ging. Ich denke, ich war nicht die Einzige, der es so ging.

Auf der Alp kommen meistens fremde und ganz verschiedene Personen zusammen. Diese Personen müssen dann drei Monate lang zusammenarbeiten und können einander kaum ausweichen. Sie müssen stark genug sein, um jeden Tag früh aufzustehen und ihre Arbeiten zu verrichten und das ohne Frei-Tage. Daraus ergeben sich natürlich immer wieder Konflikte, die ausgetragen werden müssen.

Nachdem wir uns elf Wochen um die Kühe gekümmert hatten, wurde es Zeit für die Alpabfahrt. Ein tolles Erlebnis! In der Woche davor, schmückten wir rote Holzherzen mit Blumen. Auf den Herzen war das Zeichen der Alp aufgemalt. Alle Kühe mit Hörnern bekamen so ein Herz auf die Stirn gebunden. Etwa zwölf Kühen haben wir noch zusätzlich einen Melkschemel, der ebenfalls mit Blumen geschmückt wurde, auf den Kopf gebunden. Einige Kühe bekamen auch grössere Glocken.

Wir marschierten mit etwa sechzig Kühen von der Alp bis nach Vaduz hinunter, was dreieinhalb Stunden dauerte. Dabei kamen wir durch die Dörfer Steg, Triesenberg und schliesslich nach Vaduz. Als wir in Vaduz einmarschierten, war ich über die vielen Menschen erstaunt, welche am Strassenrand standen. Manche versuchten die Kühe zu streicheln, und viele fotografierten uns und die geschmückten Kühe. Schliesslich führten wir die Kühe auf eine Wiese. Dort standen die Bauern, um ihre Tiere abzuholen. Es war schön, all die bekannten Gesichter wiederzusehen. Bald waren die Tiere verladen und es kehrte wieder Ruhe ins Städtchen ein.

Es war ein intensiver Sommer voller Arbeit, aber auch mit vielen schönen Erlebnissen. Ich kann mir gut vorstellen, wieder einmal zu gehen. Doch jetzt kommt erst der Winter.